"Philosophie" bedeutet nicht nur "Liebe zu Weisheit", sondern ist in ihrer Essenz auch die Wissenschaft, welche die Liebe als schönste Kraft des Seins erforscht. Im folgenden Auszüge aus Platons Schrift "Über die Liebe", welches die erste Überlieferung dieser menschlichen Selbsterkenntnis der Liebe ist:

 

... Es ist nun also Eros von solcher Beschaffenheit und Herkunft, und die Liebe ist, wie du sagst, auf das Schöne gerichtet. Wenn nun aber jemand uns fragte: »Inwiefern ist denn die Liebe auf das Schöne gerichtet, o Sokrates und Diotima?« – was würden wir ihm antworten? Doch ich will es noch deutlicher ausdrücken: Wer des Schönen begehrt, was ist dem dabei der eigentliche Zweck seines Begehrens?

Daß es ihm zuteil werde, war meine Antwort.

Diese Erwiderung, wandte sie ein, bedarf einer neuen Frage: Was wird denn dem damit zuteil, welchem das Schöne zuteil wird?

Auf diese Frage, gestand ich, habe ich durchaus nicht mehr sogleich eine rechte Antwort zur Hand.

Nun, erwiderte sie, wie, wenn jemand statt des Schönen das Gute setzte und dich dann fragte: Wohlan, Sokrates, wer das Gute liebt, was begehrt der eigentlich damit?

Daß es ihm zuteil werde, war meine Entgegnung.

Und was wird jenem zuteil, dem das Gute zuteil wird?

Das, erwiderte ich, kann ich leichter beantworten: er wird glückselig.

Denn durch den Besitz des Guten, fügte sie hinzu, sind die Glückseligen glückselig. Und nun bedarf es nicht mehr der weiteren Frage: Was erstrebt derjenige eigentlich damit, welcher glückselig zu sein wünscht? Sondern hier scheint die Antwort am Ziele angelangt zu sein. …

Die Liebe ist also mit einem Worte auf den dauernden Besitz des Guten gerichtet.

Sehr richtig bemerkt, entgegnete ich.

Wenn nun also, fuhr sie fort, dies beständig der Gegenstand der Liebe ist, auf welche Weise muß man ihn denn verfolgen und welches Verfahren bei seiner Mühe und Anstrengung einschlagen, um ihr den Namen der Liebe im eigentlichen Sinne zu erwerben? Was für einer Tätigkeit gelingt dies? Vermagst du mir das zu sagen?

Dann würde ich, liebe Diotima, warf ich ein, dich doch wohl nicht wegen deiner Weisheit bewundern und zu dir gegangen sein, um eben dies zu lernen.

So will ich es dir denn sagen, sprach sie. Es ist dies die Zeugung im Schönen, dem Körper wie dem Geiste nach.

Sehergabe gehört dazu, um zu wissen, was du meinst, versetzte ich: ich fasse es nicht.

So will ich es dir denn deutlicher sagen, erwiderte sie. Alle Menschen nämlich tragen Zeugungsstoff in sich, körperlichen sowie geistigen, und wenn wir zu einem gewissen Alter gelangt sind, so strebt unsere Natur zu erzeugen. Im Häßlichen aber vermag sie nicht zu erzeugen, wohl aber im Schönen. Zeugung nämlich ist die Vereinigung des Mannes und Weibes. Es ist dies aber ein göttlicher Akt, und dies beides liegt in den sterblichen Wesen als ein Unsterbliches, Schwangerschaft und Erzeugung. Es kann dieser Akt aber da nicht vor sich gehen, wo es an Einklang fehlt. Im Widerspruch mit allem, was göttlich heißt, steht nun aber das Häßliche, und nur das Schöne im Einklang damit! Eine leitende und entbindende Göttin ist daher die Schönheit bei der Geburt. Wenn nämlich das, was den Zeugungsstoff in sich trägt, dem Schönen sich nähert, dann empfindet es Lust und zerfließt in Wonne und gebiert und erzeugt; wenn es aber dem Häßlichen sich nähert, dann zieht es sich finster und traurig in sich selbst zurück und wendet sich ab und rollt sich zusammen und erzeugt nicht, sondern hält mit Schmerzen seinen Zeugungsstoff an sich. Darum trägt denn auch das Schwangere und schon vom Zeugungstriebe Strotzende eine so heftige Leidenschaft zu dem Schönen, weil es durch dieses großer Wehen entledigt wird. Es ist nämlich, mein Sokrates, fuhr sie fort, die Liebe nicht, wie du glaubst, auf das Schöne als solches gerichtet.

Auf was denn sonst?

Auf die Erzeugung und Geburt im Schönen.

Es mag sein, erwiderte ich.

Es ist so, versicherte sie.

Warum denn aber auf die Erzeugung?

Weil die Zeugung das Ewige und Unsterbliche ist, soweit dies vom Sterblichen erreicht werden kann. …

Diejenigen nun also, fuhr sie fort, welche dem Leibe nach zeugungslustig sind, wenden sich mehr zu den Weibern und suchen bei ihnen ihrer Liebe Befriedigung, um sich durch die Zeugung von Kindern Unsterblichkeit, Andenken und Glückseligkeit für alle Folgezeit, wie sie meinen, zu erwerben; die aber, die es der Seele nach sind,... – es gibt nämlich auch solche, deren Seele noch zeugungslustiger ist als ihr Körper, in dem, was der Seele zukommt, zu erzeugen und fort und fort zu erzeugen. Was aber kommt ihr zu? Weisheit und alle andere Tugend. Deren Erzeuger nun sind gewiß alle Dichter und alle diejenigen Künstler, welche man als die schaffenden bezeichnet. Der bei weitem höchste und schönste Teil der Weisheit, sprach sie weiter, ist aber der, welcher sich in der Verwaltung der Staaten und des Hauswesens zeigt und dessen Name maßhaltende Besonnenheit und Gerechtigkeit ist. Wenn also hier – mit wiederum jemand von Jugend auf in seinem Geiste schwanger geht, göttlicher Begeisterung voll, und wenn dann seine Jahre kommen, in denen er bereits zu gebaren und zu erzeugen begehrt, dann sucht auch dieser, wie ich denke, nach dem Schönen, in welchem er fruchtbar werde: denn in dem Häßlichen wird er es niemals werden. Schöne Körper liebt er daher mehr als häßliche in seiner Zeugungslust, und wenn er eine schöne und edle und wohlbegabte Seele trifft, dann umfaßt er beides in seiner Vereinigung mit außerordentlicher Liebe, und für einen solchen Menschen hat er sogleich eine Fülle von Reden bereit, über die Tugend und darüber, wie ein wackerer Mann beschaffen sein und was er betreiben müsse, und er sucht ihn zu bilden. Indem er nämlich mit dem Schönen in Berührung und Gemeinschaft kommt, wie ich denke, gebiert und erzeugt er, womit er schon lange schwanger ging, indem er anwesend und abwesend sich seiner erinnert; und in Gemeinschaft mit ihm zieht er das Erzeugte auf, so daß solche Menschen eine viel engere Gemeinschaft als die auf den Kindern beruhende und eine viel festere Freundschaft mit einander haben, weil sie ja schönere und unsterblichere Kinder mit einander gezeugt haben. …

 

Es muß nämlich, fuhr Diotima fort, der, welcher auf dem richtigen Wege auf dies Ziel hinstrebt, in seiner Jugend sich allerdings den schönen Körpern zuwenden, und zwar zuerst, wenn sein Führer ihn richtig leitet, einen solchen schönen Körper lieben und an diesem sich fruchtbar in schönen Reden erweisen; dann aber muß er innewerden, daß die Schönheit an jedem einzelnen Körper der an jedem anderen Körper verschwistert ist; und wenn er doch überhaupt der Schönheit der Gestalt nachgehen soll, so wäre es ja großer Unverstand, wenn er nicht endlich die Schönheit an allen Körpern für eine und dieselbe erkennen würde. Wenn er aber zu dieser Einsicht gelangt ist, dann muß er sich als Liebhaber aller schönen Körper darstellen und von seiner gewaltigen Glut für einen einzigen nachlassen, vielmehr sie gering schätzen und verachten. Hiernach aber muß er die geistige Schönheit für weit schätzbarer achten lernen als die des Körpers, so daß, wenn jemand nur eine liebenswürdige Seele besitzt, mag auch dabei sein körperlicher Reiz nur gering sein, dies ihm genügt und er sie liebt und ihrer pflegt und Reden gebiert und aufzufinden sucht, so wie sie geeignet sind, veredelnd auf Jünglinge zu wirken. Diese Stufe führt ihn aber wiederum nur dazu, daß er fähig wird, das Schöne in den Bestrebungen, Sitten und Gesetzen zu beachten, und einzusehen, daß dies alles mit einander verwandt ist, und so das körperliche Schöne für ganz geringfügig achten zu lernen. …

Wer nämlich bis hierher in der Liebe geleitet worden ist, indem er in richtiger Folge und Art das viele Schöne betrachtete, der wird endlich, am Ziele dieses Weges angelangt, plötzlich ein Schönes von wunderbarer Natur erblicken, und dies ist gerade dasjenige, mein Sokrates, zu dessen Erreichung alle früheren Mühen verwandt wurden. …

Denn dies eben heißt ja, den richtigen Weg der Liebe einschlagen oder von einem anderen auf diesem geleitet werden, wenn man um dieses Urschönen willen von jenem vielen Schönen ausgeht und so stufenweise innerhalb desselben immer weiter vorschreitet, von einem zu zweien und von zweien zu allen schönen Körpern, und von den schönen Körpern zu den schönen Bestrebungen, und von den schönen Bestrebungen zu den schönen Erkenntnissen, – bis man innerhalb der Erkenntnisse bei jener Erkenntnis endigt, die von nichts anderem als von jenem Urschönen selber die Erkenntnis ist, und so schließlich das allein wesenhafte Schöne erkennt.

Auf diesem Höhepunkte des Lebens, o mein lieber Sokrates, fuhr die Fremde aus Mantineia fort, auf welchem er das Ansichschöne betrachtet, hat das Leben des Menschen, wenn irgendwo, einen wahrhaften Wert.

 

Quelle: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Platon/Das+Gastmahl, 206 - 212


 Ähnlich wie Platon äußern sich später bedeutende Philosophen wie Augustinus, Bruno, Fichte u.a. In der neueren moderne Philosophie erforschte vor allem Max Scheler die universelle schöpferische Kraft und Bedeutung der Liebe:

 

… alle Erweiterung und Vertiefung unseres Weltbildes ist an eine verangängige Erweiterung und Vertiefung unserer Liebessphäre geknüpft. … (doch nicht nur erkenntnistheoretisch, auch metaphysisch-ontisch …) Die Füllesteigerung in der Gegebenheit des Gegenstandes bei zunehmender Liebe und Interesse, ist nicht bloß eine Tätigkeit des erkennenden Subjekts, das in den fertigen Gegenstand eindringt, sondern gleichzeitig eine Antwortreaktion des Gegenstandes selbst: ein „Sichgeben“, ein „Sicherschließen“ und „Aufschließen“ des Gegenstandes, d.h. ein wahrhaftes „Sichoffenbaren“ des Gegenstandes. Das ist ein Fragen gleichsam der Liebe, auf das die Welt antwortet, indem sie sich erschließt und darin selbst erst zu ihrem vollen Dasein und Wert kommt. 

 

Wir finden einzig bei Augustinus und der augustinischen Tradition bis zu Malebranche und Blaise Pascal ernsthafte Anfänge, das christliche Grunderlebnis über die Beziehung von Liebe und Erkenntnis auch im Zusammenhang mit außerreligiösen Problemen begrifflich zu fassen. … Zum ersten Mal ist damit der Gedanke der schöpferischen Natur der Liebe rein und ohne die romantisch-platonische Reduktion des jeweils Neuen im Schaffen auf bloße Wiederkehr eines Bestehenden, auf bloße Erhaltung von Form und Gestalt, verkündet. … den ersten und einzigen Versuch, aus der neuen christlichen Erlebnisstruktur auch neue psychologische und metaphysische Einsichten zu gewinnen. …

 

Denn nur eine besondere Form des tiefen metaphysischen Irrtums der Inder, es sei Liebe nur intuitive Erkenntnis der Einheit des Seins, bzw. Durchschauung der faktischen Scheinhaftigkeit von Trennung, Individualität, Vielheit, oder schärfer gesagt: es sei Liebe nur die Zueinanderbewegung der Teile eines ursprünglich Einen und Ganzen, liegt auch hier bei Platon vor. … Auch die Auffassung der geschlechtlichen Liebe zwischen Mann und Weib erhält so in Platons Annahme des Mythos (der Wiederfindung des Einen in Kugelgestalt) einen romantischen Charakter. …  Zwar ist Platons Lehre hoch hinausgehoben über alle modernen naturalistischen Versuche, die Erscheinung der Liebe an die vorgängige Geschlechtertrennung selbst zu binden, oder sie gar in allen ihren Arten als bloße Fortentwicklung des Geschlechtstriebes anzusehen. Umgekehrt ist ihm ist die Trennung der Geschlechter und ihr Zusammenwirken nur eine der Techniken der Natur, durch die sich die von dieser Trennung unabhängige kosmische Liebeskraft lebensschöpferisch betätigt. Aber die romantische und mystische Färbung des bloßen Sehnens nach einem alten Stadium (des ungeteilten Androgynen) … trägt auch seine Idee der geschlechtlichen Liebe in sich. Sie ist nicht prospektiv, sondern retrospektiv konzipiert.

 

 … Im christlichen Erlebnis hat sich eine radikale Umstellung von Liebe und Erkenntnis, von Wert und Sein vollzogen. … Nun gilt nicht mehr nur das griechische Axiom, dass Liebe eine Bewegung des Niederem zum Höherem, des Menschen zum selbst nicht liebenden Gott sei, sondern die liebevolle Herablassung des Höheren zum Niederen, Gottes zum Menschen, des Heiligen zum Sünder, wird selbst in das Wesen des Höheren, also auch des Höchsten aufgenommen. … das hat die Erlebnisstruktur der Welt, des Nächsten, der Gottheit gerade in diesem Punkt radikaler als je in der Welt geändert. (Doch) die gedankliche und philosophische Ausprägung dieser einzigartigen Revolution des menschlichen Geistes hat in fast unbegreiflicher Weise versagt.

  

(aus: Max Scheler: Liebe und Erkenntnis, zuerst 1916; nun in: M.Scheler, Von der Ganzheit des Menschen, Bonn 1991; 82ff.)


Auch in der neueren östlichen Philosophie gibt es starke Stimmen zur Philosophie der Liebe. So insbesondere bei Aurobindo Ghose:

 

„Wenn Wissen die weiteste Macht des Bewusstseins ist, und seine Aufgabe darin besteht, zu befreien und zu erleuchten, ist dennoch die Liebe die tiefste und intensivste Macht des Bewusstseins, und es ist ihr Privileg, der Schlüssel zu den unergründlichsten und geheimsten Winkeln des evolutionären Mysteriums zu sein. ...

„Liebe ist die Krönung allen Seins und der Weg zu dessen Erfüllung. Durch Liebe erhebt es sich zur vollen Intensität, zu jeglicher Fülle und zum Entzücken der höchsten Selbst-Findung. … Liebe ist die Macht und Leidenschaft der Selbst-Seligkeit. Ohne Liebe mögen wir den verzückten Frieden seiner Unendlichkeit erlangen, das in sich versunkene Schweigen von ananda. Wir erfahren aber nicht ihre absolute Tiefe, ihren Reichtum und ihre Fülle. … Denn Liebe ist die Krone des Wirkens und die Blüte am Baum der Erkenntnis. (aus: Die Synthese des Yoga, 1991:558 ff.)

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Weitere Gedanken zu einem integralen Verständnis der Liebe bei Aurobindo Ghose und Mira Alfassa
Aurobindo-Menschliche Seele als bewusste
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