Selbstliebe

Zitat aus Erich Fromms Buch "Die Kunst des Liebens":
 

            Während kein Einwand dagegen erhoben wird, wenn man seine Liebe den verschiedensten Objekten zuwendet, ist die Meinung weitverbreitet, dass es zwar eine Tugend sei, andere zu lieben, sich selbst zu lieben aber, das sei Sünde. Man nimmt an, in dem Maß, wie man sich selbst liebe, liebe man andere nicht, und Selbstliebe sei deshalb das gleiche wie Selbstsucht. Diese Auffassung reicht im westlichen Denken weit zurück. Calvin spricht von der Selbstliebe als der „schädlichsten Pestilenz“ (J. Calvin, 1955, S. 446). Freud spricht von der Selbstliebe zwar in psychiatrischen Begriffen, doch bewertet er sie nicht anders als Calvin. Für ihn ist Selbstliebe gleichbedeutend mit Narzissmus, bei dem die Libido sich auf die eigene Person richtet. Narzissmus ist die erste Stufe in der menschlichen Entwicklung, und wer im späteren Leben auf diese Stufe zurückkehrt, ist unfähig zu lieben; im Extremfall ist er geisteskrank. Freud nimmt an, die Liebe sei eine Manifestation der Libido, und die Libido richte sich entweder auf andere – als Liebe; oder sie richte sich auf uns selbst – als Selbstliebe. Liebe und Selbstliebe schließen sich dabei gegenseitig aus: Je mehr von der einen, umso weniger ist von der anderen vorhanden. Ist aber die Selbstliebe etwas Schlechtes, so folgt daraus, dass Selbstlosigkeit eine Tugend ist.

            Hier erheben sich folgende Fragen: Bestätigen psychologische Beobachtungen die These, dass zwischen der Liebe zu sich selbst und der Liebe zu anderen ein grundsätzlicher Widerspruch besteht? Ist Liebe zu sich selbst das gleiche Phänomen wie Selbstsucht, oder sind Selbstliebe und Selbstsucht Gegensätze? Ferner: Ist die Selbstsucht des modernen Menschen tatsächlich ein liebevolles Interesse an sich selbst als einem Individuum mit allen seinen intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten? Ist „er“, der moderne Mensch, nicht vielmehr zu einem Anhängsel an seine sozio-ökonomische Rolle geworden? Ist seine Selbstsucht wirklich dasselbe wie Selbstliebe, oder ist die Selbstsucht nicht geradezu die Folge davon, dass es ihm an Selbstliebe fehlt?

            Bevor wir den psychologischen Aspekt der Selbstsucht und der Selbstliebe nun diskutieren, ist zu unterstreichen, dass die Auffassung, die Liebe zu anderen Menschen und die Liebe zu sich selbst schlössen sich gegenseitig aus, ein logischer Trugschluss ist. [IX-475] Wenn es eine Tugend ist, meinen Nächsten als ein menschliches Wesen zu lieben, dann muss es doch auch eine Tugend – und kein Laster – sein, wenn ich mich selbst liebe, da ja auch ich ein menschliches Wesen bin. Es gibt keinen Begriff vom Menschen, in den ich nicht eingeschlossen wäre. Eine These, die das behauptet, würde sich damit als in sich widersprüchlich ausweisen. Die im biblischen Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ausgedrückte Idee impliziert, dass die Achtung vor der eigenen Integrität und Einzigartigkeit, die Liebe zum eigenen Selbst und das Verständnis dafür nicht von unserer Achtung vor einem anderen Menschen, von unserer Liebe zu ihm und unserem Verständnis für ihn zu trennen sind. Liebe zu meinem Selbst ist untrennbar mit der Liebe zu allen anderen Wesen verbunden.

            Damit sind wir bei den grundlegenden psychologischen Prämissen angekommen, auf denen sich unsere Argumentation aufbaut. Es handelt sich dabei ganz allgemein um folgende Voraussetzungen: Nicht nur andere, auch wir selbst sind „Objekte“ unserer Gefühle und Einstellungen; dabei stehen unsere Einstellungen zu anderen und die zu uns selbst keineswegs miteinander im Widerspruch, sondern hängen eng miteinander zusammen. In Bezug auf das hier erörterte Problem bedeutet dies: Die Liebe zu anderen und die Liebe zu uns selbst stellen keine Alternative dar; ganz im Gegenteil wird man bei allen, die fähig sind, andere zu lieben, beobachten können, dass sie auch sich selbst lieben. Liebe ist grundsätzlich unteilbar; man kann die Liebe zu anderen Liebes-“Objekten“ nicht von der Liebe zum eigenen Selbst trennen. Echte Liebe ist Ausdruck inneren Produktivseins und impliziert Fürsorge, Achtung, Verantwortungsgefühl und „Erkenntnis“. Sie ist kein „Affekt“ in dem Sinn, dass ein anderer auf uns einwirkt, sondern sie ist ein tätiges Bestreben, das Wachstum und das Glück der geliebten Person zu fördern. Dieses Streben aber wurzelt in unserer eigenen Liebesfähigkeit.

            Einen anderen lieben bedeutet eine Aktualisierung und ein Konzentrieren der Liebesfähigkeit. Die grundsätzliche in der Liebe enthaltene Bejahung richtet sich auf die geliebte Person als der Verkörperung von Eigenschaften, die zum Wesen des Menschen gehören. Einen Menschen lieben heißt alle Menschen als solche lieben. Jene „Arbeitsteilung“, von der William James spricht, bei der man die eigene Familie liebt, aber kein Gefühl für den „Fremden“ hat, ist ein Zeichen dafür, dass man im Grunde zur Liebe nicht fähig ist. Liebe zum Menschen ist nicht, wie häufig angenommen, eine Abstraktion, die auf die Liebe zu einer bestimmten Person folgt, sie geht ihr vielmehr voraus. Genetisch gesehen wird die Liebe zum Menschen überhaupt dadurch erworben, dass man bestimmte Individuen liebt.

            Hieraus folgt, dass mein eigenes Selbst ebenso sehr Objekt meiner Liebe sein muss wie ein anderer Mensch. Die Bejahung des eigenen Lebens, des eigenen Glücks und Wachstums und der eigenen Freiheit ist in der Liebesfähigkeit eines jeden verwurzelt, das heißt in seiner Fürsorge, seiner Achtung, seinem Verantwortungsgefühl und seiner „Erkenntnis“. Wenn ein Mensch fähig ist, produktiv zu lieben, dann liebt er auch sich selbst; wenn er nur andere lieben kann, dann kann er überhaupt nicht lieben. Wenn wir annehmen, dass die Liebe zu uns selbst und zu anderen grundsätzlich miteinander zusammenhängen, wie ist dann die Selbstsucht zu erklären, die doch offensichtlich jedes echte Interesse an anderen ausschließt? Der Selbstsüchtige interessiert [IX-476] sich nur für sich selbst, er will alles für sich, er hat keine Freude am Geben, sondern nur am Nehmen. Die Außenwelt interessiert ihn nur insofern, als er etwas für sich herausholen kann. Die Bedürfnisse anderer interessieren ihn nicht, und er hat keine Achtung vor ihrer Würde und Integrität. Er kann nur sich selbst sehen; einen jeden und alles beurteilt er nur nach dem Nutzen, den er davon hat. Er ist grundsätzlich unfähig zu lieben. Beweist das nicht, dass das Interesse an anderen und das Interesse an sich selbst unvereinbar sind? Das wäre so, wenn Selbstsucht dasselbe wäre wie Selbstliebe. Aber diese Annahme ist eben der Irrtum, der bei unserem Problem schon zu so vielen Fehlschlüssen geführt hat. Selbstsucht und Selbstliebe sind keineswegs identisch, sondern in Wirklichkeit Gegensätze. Der Selbstsüchtige liebt sich selbst nicht zu sehr, sondern zu wenig; tatsächlich hasst er sich. Dieser Mangel an Freude über sich selbst und an liebevollem Interesse an der eigenen Person, der nichts anderes ist als Ausdruck einer mangelnden Produktivität, gibt ihm ein Gefühl der Leere und Enttäuschung. Er kann deshalb nur unglücklich und eifrig darauf bedacht sein, dem Leben die Befriedigung gewaltsam zu entreißen, die er sich selbst verbaut hat. Er scheint zu sehr um sich besorgt, aber in Wirklichkeit unternimmt er nur den vergeblichen Versuch, zu vertuschen und zu kompensieren, dass es ihm nicht gelingt, sein wahres Selbst zu lieben. Freud steht auf dem Standpunkt, der Selbstsüchtige sei narzisstisch und habe seine Liebe gleichsam von anderen abgezogen und auf die eigene Person übertragen. Es stimmt zwar, dass selbstsüchtige Menschen unfähig sind, andere zu lieben, aber sie sind auch nicht fähig, sich selbst zu lieben.

            Die Selbstsucht ist leichter zu verstehen, wenn man sie mit dem besitzgierigen Interesse an anderen vergleicht, wie wir es zum Beispiel bei einer übertrieben besorgten Mutter finden. Während sie bewusst glaubt, ihr Kind besonders zu lieben, hegt sie in Wirklichkeit eine tief verdrängte Feindseligkeit gegen das Objekt ihrer Fürsorge. Sie ist übertrieben besorgt, nicht weil sie ihr Kind zu sehr liebt, sondern weil sie irgendwie kompensieren muss, dass sie überhaupt unfähig ist zu lieben.

            Diese Theorie des Wesens der Selbstsucht wird durch psychoanalytische Erfahrungen mit der neurotischen „Selbstlosigkeit“ bestätigt, die man bei nicht wenigen Menschen beobachten kann; diese leiden gewöhnlich an Symptomen, die damit zusammenhängen, etwa an Depressionen, Müdigkeit, an einer Unfähigkeit zu arbeiten, am Scheitern von Liebesbeziehungen usw. Nicht nur wird Selbstlosigkeit nicht als ein „Symptom“ empfunden; im Gegenteil: Sie ist oft der einzige lobenswerte Charakterzug, auf den solche Menschen stolz sind. Der solcherart Selbstlose „will nichts für sich selbst“; er „lebt nur für andere“; er ist stolz darauf, dass er sich selbst nicht wichtig nimmt. Er wundert sich darüber, dass er sich trotz seiner Selbstlosigkeit unglücklich fühlt und dass seine Beziehungen zu denen, die ihm am nächsten stehen, unbefriedigend sind. Bei der Analyse stellt sich dann heraus, dass seine Selbstlosigkeit sehr wohl etwas mit seinen anderen Symptomen zu tun hat, und dass sie selbst eines dieser Symptome und sogar oft das Wichtigste ist; der Betreffende ist nämlich überhaupt in seiner Fähigkeit, zu lieben oder sich zu freuen, gelähmt; dass er voller Feindschaft gegen das Leben ist und dass sich hinter der Fassade seiner Selbstlosigkeit eine subtile, aber deshalb nicht weniger intensive Ichbezogenheit verbirgt. Man kann einen solchen Menschen nur heilen, wenn man auch seine Selbstlosigkeit als eines seiner Symptome [IX-477] interpretiert, um auf diese Weise seinen Mangel an Produktivität, der die Ursache sowohl seiner Selbstlosigkeit als auch seiner anderen Störungen ist, korrigieren zu können.

            Das Wesen der Selbstlosigkeit kommt besonders deutlich in ihrer Wirkung auf andere zum Ausdruck und in unserer Kultur speziell in der Wirkung, die eine solche „selbstlose“ Mutter auf ihre Kinder hat. Sie meint, durch ihre Selbstlosigkeit würden ihre Kinder erfahren, was es heißt, geliebt zu werden, und sie würden ihrerseits daraus lernen, was lieben bedeutet. Die Wirkung ihrer Selbstlosigkeit entspricht jedoch keineswegs ihren Erwartungen. Die Kinder machen nicht den Eindruck von glücklichen Menschen, die davon überzeugt sind, geliebt zu werden. Sie sind ängstlich, nervös und haben ständig Angst, die Mutter könnte mit ihnen nicht zufrieden sein, und sie könnten ihre Erwartungen enttäuschen. Meist werden sie von der versteckten Lebensfeindschaft ihrer Mutter angesteckt, die sie mehr spüren als klar erkennen, und schließlich werden auch sie ganz davon durchdrungen. Alles in allem wirkt eine derart selbstlose Mutter auf ihre Kinder kaum anders als eine selbstsüchtige, ja die Wirkung ist häufig noch schlimmer, weil ihre Selbstlosigkeit die Kinder daran hindert, an ihr Kritik zu üben. Sie fühlen sich verpflichtet, sie nicht zu enttäuschen; so wird ihnen unter der Maske der Tugend eine Abscheu vor dem Leben beigebracht. Hat man dagegen Gelegenheit, die Wirkung zu studieren, die eine Mutter mit einer echten Selbstliebe auf ihr Kind ausübt, dann wird man erkennen, dass es nichts gibt, was dem Kind besser die Erfahrung vermitteln könnte, was Liebe, Freude und Glück bedeuten, als von einer Mutter geliebt zu werden, die sich selbst liebt.

            Man kann diese Gedanken über die Selbstliebe nicht besser zusammenfassen als mit einem Zitat Meister Eckharts:

 

            Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst. Solange du einen einzigen Menschen weniger lieb hast als dich selbst, so hast du dich selbst nie wahrhaft lieb gewonnen, – wenn du nicht alle Menschen so lieb hast wie dich selbst, in einem Menschen alle Menschen: und dieser Mensch ist Gott und Mensch. So steht es recht mit einem solchen Menschen, der sich selbst lieb hat und alle Menschen so lieb wie sich selbst, und mit dem ist es gar recht bestellt. (Meister Eckhart, 1977, S. 214).